adolescence [netflix]

auch wenn mir der sinn momentan lieber nach unterhaltung mit leichten thematiken steht, lande ich doch immer wieder bei schwer verdaulichen dingen. andererseits kann ich bei handwerklich so herausfordernden werken wie diesem nicht widerstehen – konkret war das hier eine szene pro episode ohne schnitt.
wenn das dann noch so beispielhaft umgesetzt wird wie hier und in mehrerer hinsicht fragen aufwirft, die gesamtgesellschaftlich angegangen werden müssen, ist mir das mehr als recht. eigentlich wollte ich mir die miniserie in zwei abschnitte à zwei folgen einteilen, am ende geschah es in einem rutsch.

auch wenn ich den inhalt nur grob wiedergeben werde: der rest ist nicht spoilerfrei – gerade was das aufzeigen der strukturellen probleme und die parallelen zu meiner sozialisierung angeht. wer sich die serie zunächst anschauen und dann nachlesen möchte, warum sie bei mir nachhaltigen eindruck hinterlässt, liest nach dem horizontalen strich am besten nicht weiter.

die wertung möchte ich dennoch vorwegnehmen: ein meisterwerk, das alles andere als angenehm anzuschauen ist und mehr fragen aufwirft als antworten zu geben.


adolescence

inhalt

der 13-jährige jamie wird zu beginn wegen des mordes an einer mitschülerin festgenommen. im weiteren verlauf sehen sich familie, therapeut*innen, lehrer*innen und auch gleichaltrige mit der frage konfrontiert, was wirklich und vor allem weshalb diese tat geschehen ist.

umsetzung

vier folgen, zwischen 51 und 65 minuten lang und stets in einer einstellung ohne schnitt gedreht. das ist die „handwerkliche herausforderung“, von der ich eingangs sprach. selbst bei inhaltlich für mich eher mittelprächtigen ergebnissen wie „victoria“ (jetzt ist es raus) habe ich respekt vor der organisatorischen leistung, bei der das timing für ereignisse sowie die personen vor und erst recht hinter der kamera sitzen muss.

zugegeben: ich war vielmehr mit der handlung bzw. der darunterliegenden thematik beschäftigt, als dass mir eventuelle kontinuitäts- oder logikfehler aufgefallen wären. in der hinsicht werden ausgewiesene analyst*innen sicher etwas ausfindig machen. die durch den one-take-ansatz präsente unmittelbarkeit hatte mich jedenfalls von der ersten folge an. manche abschnitte lassen auch etwas durchatmen zu, aber grundsätzlich findet sich in jeder einzelnen episode eine verdichtung, die erstmal mental bewältigt werden muss.

sensationelle kameraarbeit, auch wenn mensch in manchen passagen mit wackeliger handkamera zurechtkommen muss. das ist dann jedoch der handlung angemessen. der übergang von gimbal-gestützter stabilisierung zu einer drohnen-fahrt mit rückkehr zur stabilisierten perspektive am ende von episode 2 sowie die in der fast kammerspielartigen episode 3 um die beiden protagonist*innen rotierende, jedoch in entscheidenden augenblicken bei den darsteller*innen verweilende kameraführung sind nur zwei beispiele für das schlicht wahnsinnige niveau, auf dem hier gearbeitet worden ist.

damit habe ich noch nicht mal von den schauspielerischen leistungen angefangen. stephen graham spielt nicht nur den familienvater eddie miller, sondern hat die vorlage gleich mit entwickelt. letzteres für ihn eine premiere. christine tremarco als mutter manda und amelie pease als jamies schwester lisa: ebenfalls großartig. erin doherty spielt die psychologin in episode 3, die das zweitgutachten für jamie erstellen soll – war leider bislang nicht auf meinem schirm, wobei ich „the crown“ auch (noch) nicht gesehen habe. ich würde mich jedoch nicht wundern, bzw. sehr freuen, wenn sie künftig angebote für ähnliche hochkaräter-produktionen hätte.
womit ich bei owen cooper wäre, der abgesehen von einem theaterstück als jamie seine erste hauptrolle in einer serie absolviert und mich absolut sprachlos zurücklässt. dieser spagat zwischen dem tief verletzten männlichen ich (das eigentlich noch im entstehen begriffen ist), dessen wut bei entsprechenden triggern unkontrolliert ausbricht und genau in diese lücke trifft, ob mensch ihn noch als kind oder heranwachsenden sehen soll (was für mich eine der fragen ist, welche die serie offen lässt): ein absoluter glücksgriff, was das casting angeht. mit jetzt schon entsprechendem hype, bei dem er hoffentlich gut begleitet wird. auch er empfiehlt sich nachhaltig für charakterrollen, wobei ich hoffe, dass er nicht auf dieses sujet abonniert bleiben wird.
grundsätzlich: bis in jede nebenrolle toll besetzt. die genannten beispiele stechen heraus, verdient hätte jede*r eine nennung.

für wen und weshalb überhaupt ist „adolescence“ pflichtprogramm?

ich bin immer noch vom ersteindruck geprägt, daher potentiell überschwänglich: für jede*n.
insbesondere jedoch: für eltern, lehrer*innen, sozialarbeiter*innen, entscheidungsträger*innen in sozialen medien, sozial-, medien- und familienpolitiker*innen, polizist*innen. allem voran jedoch männer und jugendliche ab der altersfreigabe (die bei 12 jahren liegt). kann bzw. sollte auch als familie angeschaut und diskutiert werden, setzt jedoch eine offene diskussionskultur voraus.

stephen grahams motivation für das drehbuch bestand aus zwei voneinander unabhängigen vorfällen in england, bei denen ein junge ein mädchen erstochen hatte und der daraus resultierenden frage, was beide zu der jeweiligen tat getrieben hat.

es liegt auf der hand, eine solche serie mit klischeehaften geschlechterbildern zu inszenieren: gewalttätige vaterfigur mit substanzmissbrauchsproblemen und einer mutter, die das ganze aufgrund von finanzieller abhängigkeit erduldet und / oder schadensbegrenzung betreibt. die spitze des eisbergs an toxischer männlichkeit also.
eben diese sowie deren auswirkungen ist das hauptthema der serie. jedoch ist es deren großes verdienst, indem sie zeigt, dass sich unter dieser spitze wesentlich mehr verbirgt, das sich nicht in physischer gewalt, noch nicht mal in vermeintlicher emotionaler abwesenheit äußern muss. allem anschein nach sind die millers eine funktionale familie mit eddie als familienoberhaupt, der seine vaterrolle in jeglicher (also auch emotionaler) hinsicht ernstzunehmen scheint. erst im verlauf werden die mikroskopisch klein erscheinenden fehler deutlich, bei denen eddie jamie nicht die positive spiegelung gegeben hat, die er gebraucht hätte und die zusammen mit seiner schmächtigen erscheinung, damit der vermeintlichen unattraktivität für mädchen, sowie dessen außenseiterrolle in der schule (inklusive mobbing) riesige krater der unsicherheit reißen. daher rührt der titel, weil das in jamies lebensphase passiert, in der jeder junge auf der suche nach dem ist, was männlichkeit überhaupt ausmacht und mit der disposition anfällig für schädliche einflüsse aus der manosphere ist.
da „adolescence“ es sich und den zuschauer*innen jedoch nicht leicht macht, gibt es auch das gegenbeispiel: adam bascombe (sohn des detective inspectors) ist ebenso zielscheibe des spotts der mitschüler und beschränkt sich in unterhaltungen mit seinem vater normalerweise nur auf das nötigste. er nimmt jedoch die entscheidende rolle in der vermittlung der codes ein, in denen die jugendlichen miteinander kommunizieren und liefert damit die begründung für das tatmotiv. die demütigungen nimmt er scheinbar ungerührt hin. wirft weitere offene fragen auf: wie lange noch? ist er von natur aus resilienter als jamie? sucht er sich positivere vorbilder?

die notwendigkeit zur differenzierten betrachtung der einzelnen beteiligten wird also deutlich, jedoch auch die hoffnungslose überforderung vieler bezugspersonen. bei den millers wird jamie ein computer gekauft, nachdem er das interesse an kunst verliert (womit er seinen vater als idol eh nicht beeindrucken kann). und die eltern lassen ihn bis spät in die nacht gewähren, ohne eine ahnung davon zu haben, womit er sich dort beschäftigt. abends mit freunden abhängen und erst gegen 22 uhr wiederkommen scheint ebenfalls die regel zu sein.
die schule macht den eindruck einer verwahranstalt. lehrer*innen bestreiten den unterricht eher mit videos als im dialog mit schüler*innen. und der beschränkt sich ohnehin vielmehr darauf, die meute im zaum zu halten. ein auge für das talent oder die nöte der einzelnen: fehlanzeige. sozialarbeiter*innen gibt es, aber auch sie sind der situation nicht gewachsen. zwei tage nach dem mord an einer mitschülerin keine psycholog*innen vor ort zu haben und unterricht nach plan zu machen: grob fahrlässig.
männliches fehlverhalten bzw. verbalausfälle gegenüber lehrerinnen und schülerinnen werden nur pro forma geahndet, jedoch nicht ernsthaft. ein idealer nährboden also, auf dem die ideen eines andrew tate, sich frauen durch manipulation und / oder erniedrigung untertan zu machen, gedeihen oder gleich in die tat umgesetzt werden können.

überhaupt: die männliche präsenz und deren ringen um dominanz ist allgegenwärtig. für mich insbesondere deutlich durch das penetrante auftreten des wärters gegenüber briony ariston (der psychologin) in der jugendpsychiatrie in episode 3. auch durch detective bascombe, der durch misha (seine kollegin) lernt, dass künftig immer der täter zuerst genannt wird, jedoch das weibliche opfer erst nachrangig kommt. und definitiv nicht an letzter stelle: jamies vater, der als kind physische gewalt erfuhr und es bei seinen kindern insofern besser gemacht hat, als dass sich seine wutausbrüche auf dinge richteten. aber eine selbstregulation der gefühle sucht mensch bei ihm vergeblich bzw. wird dies (ganz deutlich in der vierten und letzten episode) auf manda und auch lisa ausgelagert. seine vorhandene physische stärke und präsenz bietet die grundlage für jamie, dem nacheifern zu wollen. was in der schlüsselepisode 3 überdeutlich wird.

womit ich beim für mich unvorteilhaften teil bin, daher in aller deutlichkeit: dieses toxische männlichkeitsbild ist auch teil von mir und der grund, weshalb „adolescence“ bei mir – und hoffentlich vielen (werdenden) vätern sowie jugendlichen – lange nachhallen wird. auch ich hatte in dem alter bereits einen computer und – zusätzlich zu mtv nachmittags vor dem fernseher – sehr viel zeit davor verbracht, jedoch keinen internetanschluss (sehr wohl aber „wolfenstein 3d“). ich möchte nicht wissen, inwiefern ich anfällig für misogyne auswüchse eines andrew tate oder anderer derartiger spinner gewesen wäre.
objektive oder empfundene schwäche durch wutanfälle gegenüber vermeintlich schwächeren kompensieren und sich so über sie stellen. aufgestaute frustration und ängste weitestgehend für sich zu behalten. sich keine verletzlichkeit zuzugestehen und mit einem an wahn grenzenden eifer nach personen zu suchen, die einem die bestätigung zuteil werden lassen, die in frühen jahren gefehlt hat oder erschüttert wurde und damit keine chance hatte, zu einem selbstverständlichen teil des ichs zu werden. dabei auf schwache momente oder charaktere zu bauen. oder auf vermeintlich wohlmeinende menschen, die einen inklusive aller offenen wunden zu verstehen scheinen und damit umzugehen wissen. all das ist für mich nicht unbekannt, sogar ein leider nachhaltiges muster, an dessen überwindung ich zu knabbern haben werde.
vor dem hintergrund ist es für mich begreifbar, weshalb ich bis zum ende der dritten episode gehofft hatte, dass der falsche verdächtigt wird. und auch darüber hinaus mit jamie mitfühlen konnte, als seine zaghafte sicherheit, endlich gesehen worden zu sein, erneut erschüttert wurde. und das, obwohl deutlich wird, dass das misogyne weltbild bei ihm tiefe schneisen geschlagen hat. dies macht die dritte episode mal abgesehen vom grandiosen schauspiel für mich zum lackmustest zur bestimmung des eigenen standorts. und führt zu einer weiteren offenen frage: hätte irgendetwas die tragödie verhindern können oder wäre es früher oder später eh passiert?

die serie kommt vor dem hintergrund dessen, dass einige dieser besagten spinner im allgemeinen rechtsdrall die uhr zurückdrehen und wieder beim patriarchat landen wollen, genau zur richtigen zeit. sie hält ihm sowie dessen extremsten auswüchsen den spiegel vor und zwingt zuschauer*innen geradezu, sich mit der eigenen rolle in diesem gesellschaftlichen gefüge auseinanderzusetzen. ein gefüge, das sehr in richtung individualisierung – polemisierend: das recht des stärkeren – driftet und das gemeinschaftliche aus dem blickfeld verliert. es liegt auf der hand, dass sich bei solchen von allgemeiner unsicherheit geprägten umbrüchen so viele fragen ergeben, dass deren beantwortung auf sich warten lässt. fragen, die in der kernfamilie gestellt und auf augenhöhe verhandelt werden sollten. es ist brandgefährlich, dass die manosphere im gleichschritt mit rechtsaußen mit vermeintlich einfachen lösungen den raum besetzen will, in dem jungs sich zurechtfinden wollen.

„adolescence“ passt damit sehr in den zeitgeist. ich hoffe stark, dass die serie in der breite diskussionen anstößt. sie ist viel mehr als eine schauspielerische und technische meisterleistung. mich hat sie mit meinen mustern toxischer männlichkeit konfrontiert und gezeigt, dass ich nur einen teil des weges absolviert habe. es sollten also gerade die herren der schöpfung genau hinsehen.

herausforderndes, erschütterndes, vielschichtiges fernsehen, das komplexität statt einfacher antworten vermittelt. schlicht und ergreifend: großartig.