adolescence [netflix]

auch wenn mir der sinn momentan lieber nach unterhaltung mit leichten thematiken steht, lande ich doch immer wieder bei schwer verdaulichen dingen. andererseits kann ich bei handwerklich so herausfordernden werken wie diesem nicht widerstehen – konkret war das hier eine szene pro episode ohne schnitt.
wenn das dann noch so beispielhaft umgesetzt wird wie hier und in mehrerer hinsicht fragen aufwirft, die gesamtgesellschaftlich angegangen werden müssen, ist mir das mehr als recht. eigentlich wollte ich mir die miniserie in zwei abschnitte à zwei folgen einteilen, am ende geschah es in einem rutsch.

auch wenn ich den inhalt nur grob wiedergeben werde: der rest ist nicht spoilerfrei – gerade was das aufzeigen der strukturellen probleme und die parallelen zu meiner sozialisierung angeht. wer sich die serie zunächst anschauen und dann nachlesen möchte, warum sie bei mir nachhaltigen eindruck hinterlässt, liest nach dem horizontalen strich am besten nicht weiter.

die wertung möchte ich dennoch vorwegnehmen: ein meisterwerk, das alles andere als angenehm anzuschauen ist und mehr fragen aufwirft als antworten zu geben.


adolescence

inhalt

der 13-jährige jamie wird zu beginn wegen des mordes an einer mitschülerin festgenommen. im weiteren verlauf sehen sich familie, therapeut*innen, lehrer*innen und auch gleichaltrige mit der frage konfrontiert, was wirklich und vor allem weshalb diese tat geschehen ist.

umsetzung

vier folgen, zwischen 51 und 65 minuten lang und stets in einer einstellung ohne schnitt gedreht. das ist die „handwerkliche herausforderung“, von der ich eingangs sprach. selbst bei inhaltlich für mich eher mittelprächtigen ergebnissen wie „victoria“ (jetzt ist es raus) habe ich respekt vor der organisatorischen leistung, bei der das timing für ereignisse sowie die personen vor und erst recht hinter der kamera sitzen muss.

zugegeben: ich war vielmehr mit der handlung bzw. der darunterliegenden thematik beschäftigt, als dass mir eventuelle kontinuitäts- oder logikfehler aufgefallen wären. in der hinsicht werden ausgewiesene analyst*innen sicher etwas ausfindig machen. die durch den one-take-ansatz präsente unmittelbarkeit hatte mich jedenfalls von der ersten folge an. manche abschnitte lassen auch etwas durchatmen zu, aber grundsätzlich findet sich in jeder einzelnen episode eine verdichtung, die erstmal mental bewältigt werden muss.

sensationelle kameraarbeit, auch wenn mensch in manchen passagen mit wackeliger handkamera zurechtkommen muss. das ist dann jedoch der handlung angemessen. der übergang von gimbal-gestützter stabilisierung zu einer drohnen-fahrt mit rückkehr zur stabilisierten perspektive am ende von episode 2 sowie die in der fast kammerspielartigen episode 3 um die beiden protagonist*innen rotierende, jedoch in entscheidenden augenblicken bei den darsteller*innen verweilende kameraführung sind nur zwei beispiele für das schlicht wahnsinnige niveau, auf dem hier gearbeitet worden ist.

damit habe ich noch nicht mal von den schauspielerischen leistungen angefangen. stephen graham spielt nicht nur den familienvater eddie miller, sondern hat die vorlage gleich mit entwickelt. letzteres für ihn eine premiere. christine tremarco als mutter manda und amelie pease als jamies schwester lisa: ebenfalls großartig. erin doherty spielt die psychologin in episode 3, die das zweitgutachten für jamie erstellen soll – war leider bislang nicht auf meinem schirm, wobei ich „the crown“ auch (noch) nicht gesehen habe. ich würde mich jedoch nicht wundern, bzw. sehr freuen, wenn sie künftig angebote für ähnliche hochkaräter-produktionen hätte.
womit ich bei owen cooper wäre, der abgesehen von einem theaterstück als jamie seine erste hauptrolle in einer serie absolviert und mich absolut sprachlos zurücklässt. dieser spagat zwischen dem tief verletzten männlichen ich (das eigentlich noch im entstehen begriffen ist), dessen wut bei entsprechenden triggern unkontrolliert ausbricht und genau in diese lücke trifft, ob mensch ihn noch als kind oder heranwachsenden sehen soll (was für mich eine der fragen ist, welche die serie offen lässt): ein absoluter glücksgriff, was das casting angeht. mit jetzt schon entsprechendem hype, bei dem er hoffentlich gut begleitet wird. auch er empfiehlt sich nachhaltig für charakterrollen, wobei ich hoffe, dass er nicht auf dieses sujet abonniert bleiben wird.
grundsätzlich: bis in jede nebenrolle toll besetzt. die genannten beispiele stechen heraus, verdient hätte jede*r eine nennung.

für wen und weshalb überhaupt ist „adolescence“ pflichtprogramm?

ich bin immer noch vom ersteindruck geprägt, daher potentiell überschwänglich: für jede*n.
insbesondere jedoch: für eltern, lehrer*innen, sozialarbeiter*innen, entscheidungsträger*innen in sozialen medien, sozial-, medien- und familienpolitiker*innen, polizist*innen. allem voran jedoch männer und jugendliche ab der altersfreigabe (die bei 12 jahren liegt). kann bzw. sollte auch als familie angeschaut und diskutiert werden, setzt jedoch eine offene diskussionskultur voraus.

stephen grahams motivation für das drehbuch bestand aus zwei voneinander unabhängigen vorfällen in england, bei denen ein junge ein mädchen erstochen hatte und der daraus resultierenden frage, was beide zu der jeweiligen tat getrieben hat.

es liegt auf der hand, eine solche serie mit klischeehaften geschlechterbildern zu inszenieren: gewalttätige vaterfigur mit substanzmissbrauchsproblemen und einer mutter, die das ganze aufgrund von finanzieller abhängigkeit erduldet und / oder schadensbegrenzung betreibt. die spitze des eisbergs an toxischer männlichkeit also.
eben diese sowie deren auswirkungen ist das hauptthema der serie. jedoch ist es deren großes verdienst, indem sie zeigt, dass sich unter dieser spitze wesentlich mehr verbirgt, das sich nicht in physischer gewalt, noch nicht mal in vermeintlicher emotionaler abwesenheit äußern muss. allem anschein nach sind die millers eine funktionale familie mit eddie als familienoberhaupt, der seine vaterrolle in jeglicher (also auch emotionaler) hinsicht ernstzunehmen scheint. erst im verlauf werden die mikroskopisch klein erscheinenden fehler deutlich, bei denen eddie jamie nicht die positive spiegelung gegeben hat, die er gebraucht hätte und die zusammen mit seiner schmächtigen erscheinung, damit der vermeintlichen unattraktivität für mädchen, sowie dessen außenseiterrolle in der schule (inklusive mobbing) riesige krater der unsicherheit reißen. daher rührt der titel, weil das in jamies lebensphase passiert, in der jeder junge auf der suche nach dem ist, was männlichkeit überhaupt ausmacht und mit der disposition anfällig für schädliche einflüsse aus der manosphere ist.
da „adolescence“ es sich und den zuschauer*innen jedoch nicht leicht macht, gibt es auch das gegenbeispiel: adam bascombe (sohn des detective inspectors) ist ebenso zielscheibe des spotts der mitschüler und beschränkt sich in unterhaltungen mit seinem vater normalerweise nur auf das nötigste. er nimmt jedoch die entscheidende rolle in der vermittlung der codes ein, in denen die jugendlichen miteinander kommunizieren und liefert damit die begründung für das tatmotiv. die demütigungen nimmt er scheinbar ungerührt hin. indirekt wird jedoch deutlich, dass er der situation zu entfliehen sucht, indem er unwohlsein vortäuscht, um nicht zur schule zu müssen. auch hier scheint das vertrauen in die eltern alles andere als ausgeprägt zu sein. ausgangspunkt für weitere offene fragen: wie lange hält adam das noch aus? ist er von natur aus resilienter als jamie? sucht er sich positivere vorbilder?

die notwendigkeit zur differenzierten betrachtung der einzelnen beteiligten wird also deutlich, jedoch auch die hoffnungslose überforderung vieler bezugspersonen. bei den millers wird jamie ein computer gekauft, nachdem er das interesse an kunst verliert (womit er seinen vater als idol eh nicht beeindrucken kann). und die eltern lassen ihn bis spät in die nacht gewähren, ohne eine ahnung davon zu haben, womit er sich dort beschäftigt. abends mit freunden abhängen und erst gegen 22 uhr wiederkommen scheint ebenfalls die regel zu sein.
die schule macht den eindruck einer verwahranstalt. lehrer*innen bestreiten den unterricht eher mit videos als im dialog mit schüler*innen. und der beschränkt sich ohnehin vielmehr darauf, die meute im zaum zu halten. ein auge für das talent oder die nöte der einzelnen: fehlanzeige. sozialarbeiter*innen gibt es, aber auch sie sind der situation nicht gewachsen. zwei tage nach dem mord an einer mitschülerin keine psycholog*innen vor ort zu haben und unterricht nach plan zu machen: grob fahrlässig.
männliches fehlverhalten bzw. verbalausfälle gegenüber lehrerinnen und schülerinnen werden nur pro forma geahndet, jedoch nicht ernsthaft. ein idealer nährboden also, auf dem die ideen eines andrew tate, sich frauen durch manipulation und / oder erniedrigung untertan zu machen, gedeihen oder gleich in die tat umgesetzt werden können.

überhaupt: die männliche präsenz und deren ringen um dominanz ist allgegenwärtig. für mich insbesondere deutlich durch das penetrante auftreten des wärters gegenüber briony ariston (der psychologin) in der jugendpsychiatrie in episode 3. auch durch detective bascombe, der durch misha (seine kollegin) lernt, dass künftig immer der täter zuerst genannt wird, jedoch das weibliche opfer erst nachrangig kommt. und definitiv nicht an letzter stelle: jamies vater, der als kind physische gewalt erfuhr und es bei seinen kindern insofern besser gemacht hat, als dass sich seine wutausbrüche auf dinge richteten. aber eine selbstregulation der gefühle sucht mensch bei ihm vergeblich bzw. wird dies (ganz deutlich in der vierten und letzten episode) auf manda und auch lisa ausgelagert. seine vorhandene physische stärke und präsenz bietet die grundlage für jamie, dem nacheifern zu wollen. was in der schlüsselepisode 3 überdeutlich wird.

womit ich beim für mich unvorteilhaften teil bin, daher in aller deutlichkeit: dieses toxische männlichkeitsbild ist auch teil von mir und der grund, weshalb „adolescence“ bei mir – und hoffentlich vielen (werdenden) vätern sowie jugendlichen – lange nachhallen wird. auch ich hatte in dem alter bereits einen computer und – zusätzlich zu mtv nachmittags vor dem fernseher – sehr viel zeit davor verbracht, jedoch keinen internetanschluss (sehr wohl aber „wolfenstein 3d“). eine anfälligkeit für misogyne auswüchse eines andrew tate oder anderer derartiger spinner wäre in jedem fall gegeben gewesen.
objektive oder empfundene schwäche durch wutanfälle gegenüber vermeintlich schwächeren kompensieren und sich so über sie stellen. aufgestaute frustration und ängste weitestgehend für sich zu behalten. sich keine verletzlichkeit zuzugestehen und mit einem an wahn grenzenden eifer nach personen zu suchen, die einem die bestätigung zuteil werden lassen, die in frühen jahren gefehlt hat oder erschüttert wurde und damit keine chance hatte, zu einem selbstverständlichen teil des ichs zu werden. dabei auf schwache momente oder charaktere zu bauen. oder auf vermeintlich wohlmeinende menschen, die einen inklusive aller offenen wunden zu verstehen scheinen und damit umzugehen wissen. all das ist für mich nicht unbekannt, sogar ein leider nachhaltiges muster, an dessen überwindung ich zu knabbern haben werde.
vor dem hintergrund ist es für mich begreifbar, weshalb ich bis zum ende der dritten episode gehofft hatte, dass der falsche verdächtigt wird. und auch darüber hinaus mit jamie mitfühlen konnte, als seine zaghafte sicherheit, endlich gesehen worden zu sein, erneut erschüttert wurde. und das, obwohl deutlich wird, dass das misogyne weltbild bei ihm tiefe schneisen geschlagen hat. dies macht die dritte episode mal abgesehen vom grandiosen schauspiel für mich zum lackmustest zur bestimmung des eigenen standorts. und führt zu einer weiteren offenen frage: hätte irgendetwas die tragödie verhindern können oder wäre es früher oder später eh passiert?

die serie kommt vor dem hintergrund dessen, dass einige dieser besagten spinner im allgemeinen rechtsdrall die uhr zurückdrehen und wieder beim patriarchat landen wollen, genau zur richtigen zeit. sie hält ihm sowie dessen extremsten auswüchsen den spiegel vor und zwingt zuschauer*innen geradezu, sich mit der eigenen rolle in diesem gesellschaftlichen gefüge auseinanderzusetzen. ein gefüge, das sehr in richtung individualisierung – polemisierend: das recht des stärkeren – driftet und das gemeinschaftliche aus dem blickfeld verliert. es liegt auf der hand, dass sich bei solchen von allgemeiner unsicherheit geprägten umbrüchen so viele fragen ergeben, dass deren beantwortung auf sich warten lässt. fragen, die in der kernfamilie gestellt und auf augenhöhe verhandelt werden sollten. es ist brandgefährlich, dass die manosphere im gleichschritt mit rechtsaußen mit vermeintlich einfachen lösungen den raum besetzen will, in dem jungs sich zurechtfinden wollen.

„adolescence“ passt damit sehr in den zeitgeist. ich hoffe stark, dass die serie in der breite diskussionen anstößt. sie ist viel mehr als eine schauspielerische und technische meisterleistung. mich hat sie mit meinen mustern toxischer männlichkeit konfrontiert und gezeigt, dass ich nur einen teil des weges absolviert habe. es sollten also gerade die herren der schöpfung genau hinsehen.

herausforderndes, erschütterndes, vielschichtiges fernsehen, das komplexität statt einfacher antworten vermittelt. schlicht und ergreifend: großartig.

032c: berlin’s sonic mecca

der artikel ist bereits anno 2022 in der juni-ausgabe des print-magazins erschienen. nichtsdestotrotz ein gefundenes fressen für leute wie mich, die sich der entstehung von legenden am liebsten über anekdoten von leuten nähert, die direkt dabei oder gar initiatoren waren. das passiert hier nach dem prinzip, welches mit „klang der familie“ angestoßen worden ist, was es umso besser macht.

das hard wax hat dort bereits erwähnung gefunden, hier geht das nochmal mit amtierendem und ehemaligem personal in die tiefe. bzw. macht lust darauf, dass sie zum 40-jährigen bestehen (ist verrückterweise bereits in vier jahren) eine eigene chronik an den start bringen. von ihrer philosophie werden sie hoffentlich nie abweichen.

klick

r.i.p. david lynch

als teenager habe ich lediglich den film zu „twin peaks“ geschaut (und nicht verstanden). die serie muss ich nach wie vor nachholen. „wild at heart“ dürfte der erste film sein, den ich bewusst gesehen habe, aber auch dort war ich noch jünger als 15.

im nachhinein faszinierend, wie jemand mit so viel surrealismus und verstörenden bildern sich so eine reputation in hollywood aufbauen konnte. er hat sich nie dem mainstream-kino angedient, sondern ist stattdessen konsequent neben der spur gefahren. selbst das zugänglichste „the straight story“ hatte seine momente, in denen der film in den lynch-eigenen wahnsinn hätte kippen können. er ist eines der leuchtenden beispiele des künstler*innenklischees, wonach eine eigene handschrift zum a und o gehört.

er litt seit jahren unter einem lungenemphysem und ist gestern im alter von 78 jahren verstorben. da seine filme noch lange nach dem abspann nachwirken und gerade bei „lost highway“ nie ganz erschlossen werden können, wird er für sehr lange zeit im cineastischen langzeitgedächtnis bleiben. und das ist wenigstens ein kleiner trost.

r.i.p.

wir kinder vom bahnhof zoo [prime video]

prolog

wenn die serie schon disclaimer setzt, kann ich das auch: ja, das ganze hier wird lang. überkompensation für mehr oder weniger funkstille und interesse an person und thema.

an sich wollte ich ja viel mehr serien rezensieren, weil die gesamtsituation das hintereinander-wegschauen nach wie vor zu einer der gefragtesten freizeitgestaltungen macht. eine gewisse schreibfaulheit meinerseits dürfte aber den regelmäßigen leser*innen durch die diversen platzhalter hier bereits aufgefallen sein.
nun bin ich in einem dilemma. christiane felscherinow hat mit ihrem bestseller inklusive der nachfolgenden verfilmung von ulrich/uli edel einen ziemlichen beitrag zu meiner vorsicht gegenüber betäubungsmitteln (wozu ich neben den illegalisierten auch alkohol und nikotin zähle) geleistet. beides hatte ich bis zur achten klasse bereits gelesen bzw. gesehen und mein interesse an ihrem werdegang danach ließ mich zu einem der selbsternannten expert*innen werden, die mit wald- und wiesenpsychologie kausalketten für den konsum und den mangelnden willen, das therapeutisch anzugehen, zusammenspinnen. klar, dass ich vor lauter faktenhunger bei veröffentlichung des zweiten buches nicht lange überlegen musste.
nach wie vor umgibt sie ein mythos, dessen folgeerscheinungen (heute die gleichen wie damals nach veröffentlichung des bestsellers: einer erwartungshaltung gerecht werden zu müssen, die sie nicht erfüllen kann) ihr selbst so unangenehm sind, dass sie sich wenige monate nach veröffentlichung des nachfolge-buchs anno 2014 aus der öffentlichkeit zurückzog.

vor zwei jahren dann die ankündigung, dass der stoff als serie neu aufgelegt wird. die liegt jetzt nun vor. regie: philipp kadelbach, drehbuch von annette hess, produziert von oliver berben und sophie von uslar. nicht nur christiane sollte im mittelpunkt stehen, sondern das gefüge ihrer clique, die ihre nächte im sound sowie ihrer tage am bahnhof bzw. auf dem babystrich an der kurfürstenstraße bestimmt. einen zeitloseren anstrich sollte die serie haben, da die thematik wenn auch nicht mehr so brennend wie damals, aber immer noch präsent ist. im letzten jahr dann das erste pressefoto, auf dem anfang-zwanzigjährige schauspieler*innen in modischer aufmachung der späten 1970er-jahre mit rebellisch-hippem anstrich in die kamera schauen. „na, das kann ja was werden,“ dachte ich bei mir. und wartete ab.
es gab dann einen kürzeren trailer, der diesen eindruck untermauerte und wenig später einen längeren, der mir zumindest etwas die sorge vor einem glamourös-glorifizierenden großstadtmärchen nehmen konnte. faktenhungrig wie eh und je überwog bei mir die neugierde, ob die serie sich der defizite des films annimmt und es insgesamt besser macht.

und genau hier bin ich beim angesprochenen dilemma: die produzent*innen setzen zum anfang jeder folge den disclaimer, dass sie auf den erlebnissen von christiane felscherinow basiert, einzelne ereignisse sowie personen jedoch fiktionalisiert sind. zugleich ward in der presse zu lesen, dass auch die damaligen tonbandaufnahmen erneut für einen tieferen einblick herangezogen worden sind. ein für mich geschickter rhetorischer kniff, um dem anspruch zu entgehen, mit buch oder film verglichen und stattdessen besser als eigenständiges werk gesehen werden zu wollen. mag in ordnung gehen, wenn die geschichte für jetzige sehgewohnheiten adaptiert werden soll. ist aber zugleich ein raffiniertes reframing, das die serie durch das vorschieben der so vielzitierten künstlerischen freiheit vorab gegen kritik immunisieren soll.
nach jetzt einer woche, die seit der veröffentlichung vergangen ist, kommt eine weitere schwierigkeit hinzu, die auch meine meinung bereits vorwegnimmt: ich hatte bereits am samstag damit angefangen, die ersten zeilen hierfür zu verfassen, weil mich an der serie so vieles aufregt. zu dem zeitpunkt stand sie in den amazon-bewertungen bei 2,4 von 5 sternen. mittlerweile hat sich das leicht auf 2,7 verbessert, aber um ehrlich zu sein, ist mir alles unter 2,5 an schadenfreude recht, so dass sich die verantwortlichen fragen gefallen lassen müssen, ob das ergebnis wirklich das budget rechtfertigt.

es wird hier also vieles stehen, was bereits anderweitig (rezensionen bei youtube, amazon sowie in der presse) abgehandelt worden ist. den negativen aspekten schließe ich mich auch nochmal in aller ausführlichkeit an. klar gibt es stimmen, die eine gewisse offenheit für die neuinterpretation des stoffes anmahnen, jedoch ist das für mich ein totschlagsargument. die macher*innen haben sich dafür entschieden, sich für die serie bei der durch buch und film etablierten quasi-„marke“ zu bedienen. daher nehme ich mir heraus, dass sie sich den vergleich zu beidem gefallen lassen muss.
eine gewisse vertrautheit mit dem buch setze ich voraus, das eigentlich jedem*r leser*in bekannt sein sollte, der*die in den vergangenen 20, 30 jahren zur schule gegangen ist. wer bis zum ende gelesen hat, wird sich jedoch den eindruck nicht verkneifen können, dass ich’s mit den details einfach nicht lassen kann. wer den film noch dazu gesehen hat: umso besser. da ich zu diesem aber auch ein paar kritikpunkte habe und eh gerade am austeilen bin, kommen die einfach mit hierzu. das verdeutlicht u.a. auch meine erwartungen im vorfeld und welche stoßrichtung die serie verfolgt (an der nicht alles, aber dann doch der großteil schlecht und nicht mal mehr gut gemeint, sondern beinahe schon fahrlässig ist).

bevor es losgeht, noch eine triggerwarnung: es werden sexuelle gewalthandlungen geschildert. wer sich dabei unwohl fühlt, sollte entweder nicht oder nur in begleitung weiterlesen. des weiteren wird das bei der beleuchtung dessen, was gut und schlecht lief, nicht spoilerfrei sein. der hauptgrund dafür: ihr könnt eine menge zeit sparen.

inhalt

christiane wächst in der berliner gropiusstadt in prekären verhältnissen auf, freundet sich in der schule mit stella an, entdeckt mit ihr gemeinsam das sound als sehnsuchtsort, erweitert dort ihren freundeskreis, sammelt erste erfahrungen mit irgendwelchen pillenartigen substanzen und hasch. unterdessen greifen zunehmend mehr in ihrem umkreis zum heroin, das sie schließlich im rahmen eines david-bowie-konzerts selbst probiert. im anschluss daran beschaffungskriminalität, prostitution, entzüge, rückfälle, todesfälle. schlussendlich cleanes leben auf dem land, ihr freund (der zu benno umgetaufte detlef, der einfachheit halber fortan bennodetlef) macht seinen hauptschulabschluss, stella lässt für sich anschaffen. stern-reporter schauen auf dem land vorbei, um sich die geschichte der mittlerweile springreitenden christiane erzählen zu lassen.

wertung

kann ich drehen und wenden, wie ich möchte – es wird auch nach einer woche nicht besser: 3 von 10. und das ist noch wohlwollend. es soll jede*r für sich selbst entscheiden, ob es die zeit (also die acht stunden) wert wäre. auch wenn es dem klischee entspricht: wer das buch noch nicht kennt, sollte sich lieber die zeit für die serie sparen und lesen. das ist immer noch spannend genug, dass mensch es in acht stunden durch haben sollte. für diejenigen, die es kennen: lieber nochmal lesen. für diejenigen, die sowohl das buch als auch den film kennen und absolut neugierig sind: schaut es euch meinetwegen an, wenn ihr die zeit partout für nichts besseres nutzen möchtet.
hier wurde eine große chance mit weitem anlauf in den sand gesetzt. aber fange ich mal mit dem an, was für die wenigen momente gesorgt hat, weswegen ich zwischendrin dann doch mal anerkennend mit dem kopf genickt habe.

positive aspekte

da setze ich bei den hoffnungen an, die ich wegen der defizite des films hatte. der hat bei mir als teenager den schalen beigeschmack des buches mit hilfe der drastischen darstellungen untermauert. hinzu kam noch meine berliner sozialisation, so dass ich die orte stellenweise bereits kannte. bilder, maske, effekte sowie soundtrack verfehlten ihre wirkung nicht – der physische sowie psychische verfall geschah im zeitraffer. alleine: kontextualisiert wurde bei all dieser atemlosigkeit wenig bis gar nicht. der film startet mit einem monolog der „christiane“, bzw. natja brunckhorst, die in die kamera blickt. kurzer abriss zum familiären hintergrund sowie einer menschenfeindlichen wohnsituation, die sich mitten in ihrer pubertät nicht gerade positiv auf ihr lebensgefühl auswirkt. sprung zu den plakaten, die das sound als europas modernste diskothek anpreisen und nach nicht mal 13 von 125 filmminuten hat sie in besagtem sound bereits eine undefinierte pille zu sich genommen, einen junkie mit nadel im arm auf der toilette gesehen und trifft detlef und axel draußen, während sie sich übergibt. mensch muss im buch erstmal wenigstens 20% geschafft haben, bis sie sich überhaupt mit kessi auf den weg richtung genthiner straße (wo sich das sound seinerzeit befand) macht.

so sehr ich nachvollziehen kann, christiane felscherinow drei jahre nach erscheinen des buches bei einer begrenzten laufzeit wie in einem film in den mittelpunkt des interesses zu stellen, geschieht das eher mit dem voyeuristischen blick auf ihren absturz sowie dem ihres engsten umfelds (also detlef und babsi).
ein manko des filmes ist das ausblenden, bzw. die sehr stiefmütterliche behandlung der kompletten vorgeschichte, wohingegen er bei drogenkonsum und den stationen des absturzes zugunsten drastischer bilder ziemlich faktentreu bleibt. die gründe für den konsum bleiben im luftleeren raum. nur indirekt angedeutet wird die gewalttätigkeit ihres vaters, die christiane und ihre schwester bereits im kindesalter erfahren haben, als ihre filmschwester auszieht. kein wort, bzw. keine szene zu dessen alkoholismus bzw. den prekären verhältnissen, die auch die junge christiane bereits im kindesalter zum stehlen verleitet haben. was außerdem fehlt: ihre versuche, dieser tristesse durch ausflüge mit ihrer schwester und den tieren aus gropiusstadt an den stadtrand zu entfliehen, ihr bedürfnis nach sozialem anschluss sowie anerkennung, das durch neue freund*innen in der schule sowie im „haus der mitte“ erst zum bier und wein, dann zu zigaretten und haschisch sowie ersten trips führte. die familienmitglieder und freunde (ja, inklusive kessi) bleiben bestenfalls in statistenrollen. das trifft insbesondere auch auf ihre mutter zu, die nach dem ersten entzug nicht mehr in erscheinung tritt. die kälte der gropiusstadt wird nur indirekt beim blick aus dem fenster sichtbar – hier hätten ein paar kameraschwenks auf abgesperrte grünflächen oder durch die betonwüsten schon was bewirken können.
immerhin gleicht das authentische bild des damaligen west-berlins diese mängel aus. jedenfalls liegt darin für mich die stärke des films: die zeitnahe umsetzung wenige jahre nach erscheinen des buches brachte den vielzitierten heimvorteil. so konnte uli edel direkt im sound drehen, ohne kulissen nachbauen zu müssen. gentrifizierung war auch anfang der 1980er-jahre noch kein thema für west-berlin (der film entstand während der hausbesetzer-zeit), die bahnhöfe waren noch nicht renoviert, in eingängen der häuserruinen ließen sich szenen des fixens drehen, der babystrich existiert sogar heute noch. mit anderen worten: die stadt und deren tristesse haben drückten dem film bereits von alleine ihren stempel auf.

einer der gründe, weshalb die serie ihre 3 von 10 punkten verdient hat, liegt tatsächlich darin, dass die geschichte vor den ersten drogenerfahrungen beginnt. nicht nur denen von christiane, sondern der restlichen gruppe. auch wenn hier vom buch abgewichen wird: familiäre streitigkeiten und gewalt bzw. gar ignoranz gegenüber schmerzhaften tatsachen (die vergewaltigung stellas durch einen stammgast in der kneipe ihrer mutter) setzen den rahmen, der den griff zu betäubungsmitteln erklärt. das fokussiert sich aber primär auf die weiblichen protagonistinnen und weniger auf die herren in der clique. dort wird der familiär-soziale hintergrund nur ansatzweise detailliert für bennodetlef geschildert. axel ist von anfang an dabei und greift hin und wieder bereits zur spritze, wird als sensibler charakter auch gut von jeremias meyer verkörpert, aber sonst bleibt dessen hintergrund im dunkeln. bei michael geht das sogar noch eine stufe weiter: er bleibt nicht mehr und nicht weniger als aggressiver stichwortgeber. hier ist der luftleere raum aus dem film wieder da und die herren scheinen zum teil aus heiterem himmel zum heroin zu greifen.
wechsel zu den damen: der konsum findet bei ihnen nicht aus dem nichts heraus statt. und außerdem im falle von christiane trotz diverser entzüge weiterhin regelmäßig: wo der film einmal, aber mit der darstellung des ersten entzugs dafür gründlich in die tiefe ging, werden hier immerhin zwei versuche und auch die verzweiflung ihrer mutter deutlich, was bereits im buch viel und in der serie den gebotenen raum einnimmt. der film verschweigt dies, hier kann ausnahmsweise die serie punkten.

des weiteren, jedoch nicht unproblematisch: die darstellung der freier, insbesondere die des „günthers“. stotter-max gab es nur kurz im film, hier ausführlicher und sogar tatsachengetreu, da (geht es nach dem buch) sowohl christiane als auch detlef zeit mit ihm verbrachten. da lässt sich über den fakt hinwegsehen, dass er sie nicht mit heroin, sondern in bar bezahlte – im gegensatz zu günther, der die rolle des heinz aus dem buch einnimmt. das ist der problematische teil: gerade günther wird als eifer- und sehnsüchtiger pädophiler dargestellt, der sich die mädchen mit heroin gefügig machen will und gewalttätig wird, als er herausfindet, dass die erkauften mädchen sich auch über andere freier versorgen. bis es soweit kommt, schrammt seine darstellung durch fürsorge und die heiratsanträge gefährlich nahe an der grenze zum mitgefühl vorbei (und überschreitet am ende auch die zur fremdscham).

der positive aspekt ist also der versuch, die längere spieldauer dafür zu nutzen, die geschichte nicht ausschließlich auf christiane, sondern auf das gefüge der clique und deren familiäres sowie das umfeld der freier zu fokussieren. ebenfalls gut: das misstrauen innerhalb der clique bekommt seinen raum und stimmt dadurch mit buch und film überein.
generell: mehr versuche zur detailtreue und damit eine steilvorlage für detailversessene wie mich. jedoch bleibt es bei diesen versuchen eben viel zu häufig.

negative aspekte

dem einfachsten und einem der mittlerweile am häufigsten vorgebrachten hauptkritikpunkte schließe ich mich an: es ist wenig sinnvoll, eine produktion mit so einem titel und entsprechend vorgeschalteten erwartungen in der ersten reihe mit schauspieler*innen zu besetzen, die um die 20 jahre alt sind. schön, wenn bereits einiges an erfahrungen in die waagschale geworfen werden kann. der film konnte durch die konsequente besetzung mit teenagern mit authentizität punkten, wobei das nicht der einzige grund ist, weshalb dies der serie so gut wie komplett abgeht.
erstmal hierzu: die serien-christiane geht als 16/17-jährige durch und deren vater könnte ihr großer bruder oder cousin sein (gut, mental ist er das in der serie auch). sicher, ihre mutter (also die aus dem buch) wurde früh schwanger, um der enge des elternhauses zu entfliehen. aber zur verdeutlichung nur mal etwas mathematik mit den geburtsjahren der seriendarsteller*innen: angelina häntsch (spielt hier christianes mutter) ist jahrgang 1984, sebastian urzendowsky (spielt christianes vater) 1985, jana mckinnon (also christiane) 1999. früh übt sich.
mal abgesehen vom alter ist christianes vater der jugendlich wirkende tölpel, der keine antworten auf die finanziellen nöte parat hat. das entlädt sich zu weihnachten gegenüber ihrer mutter in handgreiflichkeiten. und ja, das ist (bis auf weihnachten, vielmehr war christiane eine maus abhanden gekommen) so im buch passiert, jedoch war das der traurige höhepunkt einer langen reihe von misshandlungen, denen sich die familie ausgesetzt sah und der letztendlich zur scheidung und auszug der mutter mitsamt christiane und ihrer schwester führte. apropos: wo ist ihre schwester in der serie eigentlich?
mit etwas gutem willen kann mensch das jedoch noch als passabel umgesetzte einführung in die gemütslage sehen, die christiane mitsame ihrer clique zum sound und zum ersten drogenkonsum verführt. das sound ist hier wiederum ein ziemlich hipper club, in dem die lichtanlage den exponiert positionierten dj mit einer art heiligenschein versieht. überhaupt ist die welt dort schön bunt, die meute feiert zu mal mehr und mal minder poppigem techhouse. die brücke zur jetztzeit sollte damit wohl geschlagen werden, ist aber für meine begriffe sehr wacklig. die serien-christiane ist sofort angetan von dieser welt. da wird nicht mal ansatzweise daran gedacht, dass die erste nacht im sound die erwartungen der buch-christiane eigentlich so gar nicht erfüllt hat und sie sich stattdessen erst – auch zuliebe der anerkennung ihrer freund*innen – an den laden gewöhnen musste. stattdessen dominiert in der serie eine gewisse naivität, die teenagern sicherlich zueigen ist. aber wenn selbst die 16-jährige christiane ihre skepsis gegenüber dem sound im buch so benennen und ihren drogenkonsum auch kritisch spiegeln kann, hätte dies berücksichtigt werden können, gar müssen.

durch die musikauswahl wird die inkonsequenz nochmal deutlicher: die musik david bowies ist zentral für buch und film, fungiert in der serie jedoch als vehikel, beim luftgitarrewettbewerb im sound karten für’s konzert abgreifen zu können, das nun wiederum die gesamte clique besucht, bzw. besuchen will. für’s protokoll: auch wenn der cameo-auftritt bowies im film hätte zusammengekürzt werden können (obgleich ich verstehe, dass seine präsenz dem streifen mehr aufmerksam- und glaubwürdigkeit beschert hat), orientierte sich das drumherum immerhin ziemlich genau an den erlebnissen aus dem buch. christianes mutter hatte zwei tickets und christiane ging mit „hühnchen“ zum konzert, weil detlef zu der zeit bereits erfahrungen mit heroin sammelte. sie hatte also genug mit einer gefühlten distanz in ihrer beziehung und der angst vor mangelnder anerkennung in der clique zu kämpfen – gleichzeitig gaben ihr die trips und andere rauschmittel immer weniger. in der gemengelage griff sie (im buch und im film) zum ersten snief, nicht unter zuhilfenahme von mystery-elementen als metapher der verführung zur spritze auf dem silbertablett wie in der serie. danach konsumiert sie erstmal nasal weiter, bis wieder die spritze aktuell wird. da wurde die genauigkeit einer ästhetik geopfert, die nur vermeintlich drastisch sein will, aber durch die verlagerung ins mysteriöse, nebulöse entschärft. bitte immer im hinterkopf behalten: wir haben es ja hier mit einer neuinterpretation zu tun.

es gibt also die ungenauigkeiten, die sich jedoch nicht kritisieren lassen, weil: siehe disclaimer zu beginn jeder folge. also weiter im dilemma, wenn dieser pfad für den rezensenten versperrt ist und die serie als eigenständiges werk gesehen werden muss. dann bleibt noch genug absurd-hanebüchenes: der dj des sounds scheint ein vielbeschäftigter mann zu sein. erst opfer von sexparties nach art der cosa nostra im wald verscharren, dann läuft babette / babsi ihm in dahlem fast vor’s auto, in dem sie direkt übernachten darf. in weiteren folgen himmelt sie ihn inner- und außerhalb des sounds an und sehnt sich nach dessen beachtung. ich habe das erst als eine art vaterersatz gesehen. aber da es mir gerne mal an interpretationsfähigkeiten mangelt, bin ich für die amazon-rezension dankbar, die ihn als personifizierten tod benannt hat. es mag aber auch diskutabel sein, ob es solche metaphorisch, beinahe märchenhaft aufgeladenen bilder wirklich braucht, was sowohl zur thematik und erst recht zum ausgangsmaterial für mich partout nicht passen will.

dann noch die angedeutete hexenverbrennung von christianes tante auf dem land, die vielleicht die konservative strenge untermalen soll, aber für mich nicht zur handlung beiträgt und damit ein aus der luft gegriffenes schockelement bleibt.

der momente zum stutzen damit jedoch nicht genug. auswahl:
christiane stürzt gleich in der ersten folge zehn stockwerke mit dem fahrstuhl in die tiefe und schildert das vor der klasse unter allgemeinem gelächter. wenn zuschauer*innen dort bereits auf den bevorstehenden gesundheitlichen, moralischen absturz vorbereitet werden sollen: ganz schön plump, das ganze. zumal ich mir bei niemenschem vorstellen kann, nach so einem unfall noch relativ gerade vor einer klasse stehen zu können.
axels paranoia, von der stasi abgehört zu werden, wird nach seinem tod bekräftigt.

grotesk wird es mit den angesprochenen sexparties oder dem, was stella als zuhälterin zum schluss angedichtet wird. moralische verrohung hin oder her, aber da hätte es gereicht, nahe am buch zu bleiben.
komischerweise passiert das auch in details, um die nerds zufriedenzustellen: so ist die buch-stella im gefängnis tatsächlich monika berberich von der raf begegnet, aber benannt wird sie in der serie auch nicht. und deren grundlagen der kapitalismuskritik münzt stella fortan in der form um, jüngere mädchen für sich anschaffen gehen zu lassen. kann mensch als zeichen abgestumpfter nutzung von intelligenz und einer weiteren stufe richtung moralischen verfall sehen. dafür ist das mir nicht nur eine ecke zu billig und außerdem passt dieser geschäftssinn nicht so recht zu den um die ecke lauernden entzugserscheinungen.

der turkey scheint auch kein thema zu sein, wenn die drei jungen damen modisch gestylt mit einem lächeln auf den lippen auf dem catwalk unter freien himmel (gemeint ist eigentlich der babystrich) zu den klängen von santigold die herren in den autos heiß machen. die unangenehmen seiten bekommt mensch nur mit, wenn christiane alleine dargestellt wird – oder die spuren in babsis gesicht nach angedeuteter gruppenvergewaltigung (die im buch tatsächlich erwähnt wird), wo der dj, totengräber, vaterfigur und tod in personalunion die wunden reinigt bzw. babsi ins jenseits holt.

zurück zu den entzügen: die dauern nicht mal ansatzweise so lange wie die für den film zentrale szene. leicht verschwitzte haare sowie oberteile und menschen übergeben sich ein klein wenig – schon ist das ganze überstanden. erscheint jedes mal nicht viel schlimmer als ein ordentlicher kater, insofern sind rückfälle durchaus in kauf zu nehmen. überhaupt bemerkenswert, dass zwischen babystrich, schule sowie der mehrmals am tag erfolgenden injektion von unreinem heroin noch so ein makelloses styling möglich ist, so dass allerhöchstens der teint etwas blasser wird.

in all dem (besetzung, absurditäten, verklärende bilder, die sich nur dann etwas schockeffekt trauen, wenn es echt nicht mehr anders geht, aber auch dann nur in homöopathischen dosen) spiegelt sich das wider, unter dem die serie für mich zu leiden hat: sie nimmt die neuinterpretation in den fokus, verharrt dabei im szenenbild der 1970er/1980er mit der musik von heute, bleibt dabei also für mich inkohärent. über vielen szenen scheint der kelvin-filter aus instagram zu liegen, so dass ich bei den streifzügen der clique durch berlin schon darauf wartete, etwas wie „a chorus line“ oder wenigstens reminiszenzen an „saturday night fever“ zu sehen.
alles, was mit dem (intravenösen) heroin-konsum und dessen begleiterscheinungen zu tun hat, ist hier im gegensatz zum film für mich erschreckend verharmlosend. trotz der bereits genannten defizite des films war der immerhin in seiner schonungslosigkeit konsequent. auch wenn ihm seinerzeit der vorwurf der glorifizierung gemacht worden ist, konnte ich am entzug, den bildern aus dem u-bahnhof kurfürstendamm, die mit david bowies „sense of doubt“ unterlegt waren und allem was danach folgte, beim besten willen nichts erstrebenswertes finden.

in der serie sitzt hingegen bei wind und wetter und entzug die frisur sowie das make-up. abszesse, unreine, fahle haut, abmagern: fehlanzeige. wenn dem stoff ein zeitloserer anstrich gegeben werden sollte: warum nicht neben hepatitis auch hiv erwähnen oder wollte mensch sich hier nicht über die beginnenden 1980er hinaustrauen?
bei der serie bleibt alles verklärend. selbst die anteilnahme am tod axels wird durch einen gemeinsamen gang zum friedhof fast schon karikiert, indem der rest der clique sich vor dem tor in einem outfit trifft, als ob sie ins berghain möchte (und dabei dem irrglauben aufsitzen, dass die chancen mit schwarzen anziehsachen am besten stehen). noch etwas koketterie mit sex-appeal gefällig? klar, gibt es auch, wenn die serien-christiane ihrem vater die letzten reste des heroins in schwarzem body und netzstrümpfen überreicht.
das herbeikonstruierte ende, bei dem sich christiane und bennodetlef nochmal im gefängnis sehen, setzt der ganzen misere hier noch die krone auf und hinterlässt bei zuschauer*innen die illusion, dass mensch mit dem h-konsum zwar schon irgendwie aufpassen muss, aber letztlich doch glimpflich davonkommen kann. christiane ist da auf einmal viertbeste in ihrer klasse, wohingegen die buch-christiane aufgrund der vorgeschichte auf die hauptschule versetzt worden ist. neben der allgemeinen weichspülung der thematik hat sich die serie auch hier nicht getraut, den damals (und zuweilen auch heute noch) fehlenden willen einer gesellschaft zu benennen, mit dieser problematik umzugehen.

wie hätte es besser laufen können?

nun, es sind seit buch und film rund vier jahrzehnte ins land gegangen. es gibt mit „trainspotting“ sowie „requiem for a dream“ hervorragende beispiele, wie eine seitdem bekannte drogenproblematik ästhetisch anspruchsvoll, aber dennoch passend für den zeitgeist inszeniert werden kann. alleine die entzugsszene zu „dark & long“ von underworld in „trainspotting“ zeigt doch sehr gut, dass sich dance-musik und eindringliche bilder im halbwahn nicht ausschließen müssen. das liegt hier auch an einer hervorragenden dramaturgischen vorbereitung.
„requiem for a dream“ ist fast noch besser vergleichbar: das buch erschien im gleichen jahr wie „wir kinder vom bahnhof zoo“, der film kam jedoch erst gut 20 jahre später. geht es nach dem szenenbild, ist der zumindest so zeitlos, dass er in den 1980er-, aber auch in den 1990er-jahren hätte spielen können. was hier vor allem richtig läuft und mich am ende auch schlaflos zurückgelassen hat: er stellt das streben nach anerkennung als suchtmotiv ins zentrum. gleichzeitig nutzt er den belohnungseffekt durch substanzkonsum, der diese temporäre erfüllung vorzugeben scheint, hervorragend dafür aus, bei zuschauer*innen genau wie bei den konsument*innen die erwartungen zu wecken, dass dies alles durchaus so weitergehen kann. und schlägt dann doch erbarmungslos, jedoch nicht ohne vorwarnung zu.

angesichts dieser beiden nicht mal zweistündigen filme ärgert es mich umso mehr, dass bei dieser serie trotz aller vermeintlichen neuanalysen des audiomaterials von den interviews sowie des buches das augenmerk auf die produktion leicht verdaulicher bilder gelegt worden ist. die kolportierte „inhaltliche neuinterpretation“ bedeutet für mich hier in so gut wie jeder hinsicht absurdes, verharmlosendes und im besten falle redundantes. alles wirft die frage auf, ob die produzent*innen dem amazon-publikum nicht mehr zumuten wollten. hat sich aber auch seit letzter woche erledigt, da der film zeitgleich zum serienstart ebenfalls für prime-kunden freigeschaltet worden ist.

die serie hat christiane felscherinow leider einen bärendienst erwiesen. bei ihr werden sich die anfragen wieder häufen, obwohl ihr rückzug auch aus gründen der distanz zur boulevardpresse erfolgt ist. in deren gefilden wildert die serie für mich. es wäre ihr daher gegönnt, ein gutes management bzw. gute anwälte zu haben, damit sie sich immerhin über den scheck für die rechte freuen kann, aber sonst weiterhin in ruhe gelassen wird.

selbst wenn ich alle vergleiche beiseite lasse und mir vorstelle, dass die serie ihren eigenen titel bekommen und ich sie mir als eigenständiges werk angesehen hätte, käme ich zur gleichen einschätzung. der thematik ist sie beileibe nicht gerecht geworden, vielmehr das gegenteil. mehr glück, mehr courage, mehr feingefühl und am besten ein komplett ausgetauschtes personal beim nächsten mal bitte. mag sich unfair gegenüber den schauspieler*innen lesen, denen ich explizit keine vorwürfe machen möchte. sie leiden hier unter eklatanten mängeln in der konzeption und machen unter den gegebenen umständen das beste daraus.


weitere kritiken:
monopol: oliver koerner von gustorf – eine serie von spießern für spießer
faz: peter körte – sie nennen es modernisierung

r.i.p. andre janizewski / birol ünel / uli stein

das gab es auch noch nicht in der anzahl, passt aber zu den „qualitäten“ von 2020.

andre janizewski hat sich um einige orte auf der gastronomischen landkarte berlins (zur fetten ecke, zum böhmischen dorf) und erst recht als mitbetreiber der pyonen-parties sowie der nation of gondwana als deren aushängeschild verdient gemacht. das alles macht ihn zwar irgendwie unsterblich, aber für die hinterbliebenen ist und bleibt es nur ein trost. der krebs war am ende leider stärker.

birol ünel wurde manchen (zumindest mir) wegen fatih akin bekannt. insbesondere bei „gegen die wand“, aber auch bei „soul kitchen“ bin ich nach wie vor überzeugt, dass er sich selbst spielte. als es das caminetto in der sonntagstraße noch gab, war er diverse male vor dem lokal sitzend anzutreffen. nun mit nur 59 jahren verstorben – auch am krebs.

knollennasen, knopfaugen, mäuse – uli steins markenzeichen, an denen jede*r zeitungsleser*in irgendwann in den letzten zwei, drei jahrzehnten vorbeigekommen sein muss. bei ihm war es parkinson, auch mit 73 jahren zu früh.

exberliner im interview mit nd_baumecker zum clubbing während und nach der pandemie (plus eigenem essay dazu)

da der text ein plädoyer und damit ziemlich lang geworden ist, kommt der link zum ausschlaggebenden und höchst relevanten interview zuerst. dessen kernpunkte käue ich verlauf eh wieder:
„club culture is being reborn“

es ist kein sonderlich großes geheimnis, dass ich nd gegenüber aus gründen voreingenommen bin. vor wochen hatte er bei instagram einen ausschnitt des interviews hochgeladen und ich mir daher die print-ausgabe gekauft, die auch neben seiner weitere relevante perspektiven zu bieten hat. außerdem kann es für meine begriffe nicht schaden, den verlegern zu signalisieren, dass sich print-ausgaben lohnen sollen.

ja sicher (und gerne nochmal): mir fehlt das ausgehen als ausgleich zum alltag oder zum (re)kalibrieren diverser befindlichkeiten immer noch massiv. zwar war die erfahrung am vorletzten sonntag im berghain-garten eine überaus positive (schön euphorisches publikum, was einen vorgeschmack auf das liefert, was uns blühen könnte, sobald ein impfstoff bereit steht) und auch der oxi garten (ex-polygon) tritt als neuzugang in der clubszene mit fast schon zu ambitionierten line-ups in den letzten wochenenden mit tanz unter freiem himmel auf den plan. das alles sind für mich aber eher notrationen, bis es wieder richtig weitergehen kann.
andererseits ist auch mir als clubgänger und erst recht als dj mit sinkender anzahl an bookings in den letzten fünf bis acht jahren schon aufgefallen, dass das clubgeschehen in der berliner filterblase und auch anderswo (gerade auf festivals) sehr vom rennen um die vordersten plätze geprägt war. als clubgänger habe ich gerne daran partizipiert: tolle line-ups, bei denen nicht nur ein, sondern gar zwei bis drei namen pro abend die kinnlade runterfallen ließen. dazu noch gelegentliche privilegien für gästeliste und schon fällt das mit der konsumhaltung leicht. die kehrseite der medaille war hier jedoch schon häufiger nachzulesen: gerade der sonntagabend im berghain geriet in den vergangenen drei, vier jahren zur engtanzparty, bei der ich aus kundensicht gerne nur die beobachterposition einnahm, weil ich nicht bei der verteilung um die quadratzentimeter dabei sein wollte. das hat sich mit einführung des wiedereintritts letzten september nur minimal gebessert, wobei ich mir seit geraumer zeit auch die termine ausgesucht hatte, die zu weniger überfüllung führten (oder der andrang ging im letzten halben jahr vor covid-19 allgemein zurück). mein letzter besuch im februar diesen jahres war dafür jedenfalls ein positives beispiel, mag aber auch schon den vorboten der pandemie geschuldet sein.

als nur periphär im booking involvierter (den teil übernehmen bei der bewegungsfreiheit andere mit weniger sorge vor zurückweisungen) kann ich nur zu gut nachvollziehen, weshalb nd bereits vor jahren auf die bremse (bzw. als booker der panorama bar vom amt zurück) getreten ist. als ob das rennen um die besten plätze auf line-ups auf clubs und festivals nicht genug wäre (stichwort „selbstmarketing“ oder „ellenbogenmentalität“ – das muss mensch wollen), bekommen booker*innen es mit agenturen und/oder djs/live-acts zu tun, die zum gelingen eines line-ups mittlerweile tragend sind, sich dieser rolle nur zu bewusst sind und dies für eine grassierende inflation (also genau das ausleben dieser mentalität) nutzen. der markt hat also auch vor covid-19 in der szene bereits einiges geregelt.
wer noch keinen namen hat, macht sich am besten einen, indem ein eigenes label gegründet wird (um im idealfall selbst produzierte und auch noch gute tracks an die damen und herren djs zu bringen) sowie soziale medien an allen ecken und enden bespielt und schlüsselpersonen so lange behelligt werden, dass sich zumindest die theoretischen chancen erhöhen, einen platz an der sonne (also auf line-ups in namhafteren clubs) zu sichern.
wer einen namen und einen platz in einer booking-agentur hat, kann sich eigentlich glücklich schätzen: drei, vier anfragen oder gar gigs pro wochenende. unterkünfte, tolles essen und gratismeilen bei fluglinien (business-class? ja bitte!) inklusive. die kehrseite der medaille (die nd im interview glücklicherweise auch benennt): als headliner*in bleibt da nicht mehr viel zeit für das inhaltliche. stattdessen: verwendung der eingespielten rezeptur. manche im publikum nehmen das unkritisch hin (oder erwarten dies sogar) und die musik-nerds stehen am rand und bedauern, weshalb nicht mehr drin ist.

das mache ich den am zirkus beteiligten djs/live-acts nur bedingt zum vorwurf: wer die möglichkeit hat, sich dadurch den ruhestand abzusichern, soll das tun. die spirale fand ich jedoch in den letzten jahren in mehrfacher hinsicht ungesund:
erstens lässt sich der marathon aus jetlag, hotelzimmern, drei, vier sets pro wochenenden an jeweils verschiedenen orten mit entsprechenden hilfsmitteln zwar ganz gut aufrecht erhalten. auf dauer geht das jedoch an die körperliche substanz. unter der woche muss entweder die kondition wiederhergestellt, weitere tracks produziert, promos angehört, plattenläden (virtuelle oder physische) durchforstet werden. auch wenn das anfangs nach einem wahrgewordenen traum aussieht: alleine die flut an veröffentlichungen (häufig promos) und damit das djing ist ein vollzeitjob. will mensch das gründlich und mit der ambition erledigen, nicht stets das gleiche set spielen zu wollen, lässt sich das (mit den erwähnten stellschrauben zum erlangen von gigs) eigentlich nur bewerkstelligen, wenn schlaf und privatleben weitestgehend gestrichen werden. es wäre an der stelle (und vor allem zu diesem zeitpunkt, bei dem die szene zwangsläufig innehält) überaus interessant, namhaften djs die frage zu stellen, inwieweit sie in den letzten jahren anzeichen eines burn-outs bei sich bemerkt haben.
zweitens wurde damit eine ungesunde erwartungshaltung beim publikum gefördert, wodurch das clubgeschehen zu einer kleineren kopie von festivals geworden ist. ich habe die erste welle mitte der 1990er-jahre zwar nur als schüler mit der durch low spirit und frontpage getriebenen vermarktung mitbekommen und diese auch weitaus unkritischer als heute als einstieg genommen, sehe aber durchaus parallelen zu damals – mit dem unterschied, dass diese bewegung noch globaler geworden ist. dabei finde ich es einerseits toll, dass techno nicht mehr das nischendasein wie damals führt, für das mensch sich rechtfertigen muss. gerade im bereich der relevanz der clubkultur für attraktive(re) städte und damit auch deren planung sowie der präventiven drogenaufklärungsarbeit ist seither einiges passiert. zumindest haben die aus der bewegung stammenden stimmen sich gehör verschafft – was damit geschieht, steht auf einem anderen blatt. problematisch wird es jedoch, die clubkultur vorrangig als wirtschaftsfaktor zu begreifen: auf der einen seite begrüßenswert als hebel zur erhaltung der orte für clubs (am beispiel berlins: gerade mit nähe zum s-bahn-ring), keine frage. auf der anderen seite sind genau diese clubs am zuge, ebenso wirtschaftlich zu arbeiten. line-ups sind hierbei mittel und zweck, entweder weiterhin als etablierter name im zirkus mitzumischen oder erst recht, wenn sich ein club oder eine partyreihe diesen erst verdienen muss.
beides führt zum auf-nummer-sicher-gehen und damit zur verwässerung. als booker*in möchten line-ups einerseits gut kuratiert, der club andererseits auch gut gefüllt sein. als dj/live-act möchte mensch gerne aus dem vollen schöpfen, bekommt dies jedoch aufgrund von zeit- und erwartungsdruck nicht so hin. das erklärt, warum der kreis der großen namen, die sich in berliner clubs wirklich was getraut hätten, ein ziemlich kleiner ist.

paradoxerweise sägen clubs oder veranstalter*innen damit am ast, der zu ihrem ruf oder erfolg beigetragen hat. es ist vielleicht etwas viel verlangt, das wilde, archaische, experimentielle aufbruchsgefühl der anfangsjahre wiederherstellen zu wollen. dafür ist der stil zu etabliert und die musikalischen revolutionen oder erweckungsmomente auf der tanzfläche mittlerweile zu rar. das ist aber auch normal und irgendwie in ordnung so, wenn mensch das mehr als 20 jahre lang aktiv mitverfolgt und -erlebt. mich stört halt (und da kommt auch das gekränkte dj-ego mit bewusstsein des eigenen geschmacks durch) massiv, dass diese spirale den ursprünglichen gedanken, anders als die etablierten stile sein und neue musikalische horizonte erschließen zu wollen, ordentlich verwässert hat. anstelle neue musik oder ungeahnte mischungen vermeintlich unvereinbarer stile willkommen zu heißen, ähnelt das leider ziemlich dem, was sich bei rock-konzerten oder etablierten festivals beobachten lässt. ausnahmen bestätigen hier zwar gerne die regel (die freitage im berghain, den verzicht der staub auf line-up-ankündigungen mit offenem musikalischen konzept oder reihen wie mother’s finest, version, warning, reef kann ich nicht häufig genug loben), aber die pandemie hat sehr deutlich gemacht, dass der weg des geringsten widerstandes mit einem hohen preis versehen ist.
insofern teile ich die hoffnung von nd voll und ganz, dass sich clubs ihrer rolle als geschmacksinstitutionen wieder bewusster werden. das berghain hat sich dabei von anfang an sehr gut positioniert, indem auf die residents als rückgrat gesetzt worden ist. es wäre schön, wenn clubs sich fortan weniger auf große namen konzentrieren und das dafür gewonnene geld in die taschen der residents oder lokalen musikanten fließt, die als regelmäßig in ihrem stammclub (oder außerhalb) feiern gehende und auch auflegende / produzierende musiker große mühe und zeit investieren, den club sowie dessen publikum aus dem effeff kennenzulernen und damit das wissen erlangen, wie die persönliche note durch hier und da eingestreute gimmicks im set gesetzt werden kann. dabei helfen weniger und dafür ausgesuchtere gigs, damit mehr zeit zum wühlen in mehr als 30 jahren elektronischer tanzmusikgeschichte bleibt.
alles in allem wünsche ich mir: bitte weniger festgefahrene erwartungshaltungen und ergebnisse. bitte weniger schielen auf das maximum an gage oder reichweite. kondition bzw. körperliche ressourcen sind endlich und auch wenn es den persönlichen narzissmus schmerzt: es gibt auch andere mit ähnlich gutem geschmack, von denen sich lernen lässt und die das mit dem erzählen von geschichten im set vielleicht sogar besser können als mensch selbst. schlussendlich sollte musik der gemeinsame nenner sein, der kein wettstreit, sondern vielmehr inspiration sein sollte (zugegeben: bei dieser lektion bin auch noch lange nicht am ende).
ich befürchte zwar, dass wir nach dem ende der pandemie schneller wieder dort landen als es den musikliebhaber*innen passt, aber die letzten ein bis zwei jahre wiesen wieder in die richtung, dass auch an normalen sonntagen im berghain mehr vielfalt geht als trockene kicks mit reverb. wenngleich clubs rentabel sein müssen: auf absehbare zeit wird das vorgängerniveau mit der hälfte des publikums aus dem easyjet-flieger nicht erreicht werden können. es wird also keine andere wahl bleiben, als dass bei den line-ups auf das budget geachtet werden muss, wenn das publikum sich (gerade in der anfangszeit) eher aus berliner*innen rekrutiert. die wiederum könnten noch am ehesten die kenntnisse über fähige resident- oder lokale djs besitzen und werden sich hoffentlich längere zeit der tatsache bewusst sein, dass die clubkultur nicht als selbstverständlich hingenommen werden sollte.
in kombination dazu wünsche ich mir mehr geschichtsbewusstsein. da mache ich mir bei den älteren (40+) keine sorgen, weil die es sind, die hier die perfekten rahmenbedingungen vorfinden, um weiterhin leidenschaftlich in clubs gehen zu können, ohne dass wegen des alters schräg geschaut wird. im gegenteil habe ich sogar den eindruck, dass die jüngeren mittlerweile sehr gerne von diesem erfahrungsschatz profitieren. auch da herrscht ohne zweifel offenheit.
daher als anregung (an alle alterskohorten oder die szeneaffinen): bitte nehmt diesen neustart als gelegenheit, eure erwartungshaltungen zu hinterfragen oder sie bei anderen zu benennen. zieht die unkritischeren oder engstirnigen unter euch mit. zeigt ihnen auf, auf welchem fundament sich die clubwelt gründet und dass das konsumieren des erwartbaren nur eine option unter vielen ist. vertraut den clubs und djs/residents als geschmacksträger*innen. erwartet lieber überraschungen. lasst djs/live-acts die zeit, sets zu entwickeln und dabei auch mal daneben zu liegen.

kurzum: verlasst auch mal ausgetretene pfade und gesteht jeder*m (und damit auch euch selbst) zu, menschlich und damit fehlbar zu sein. das ist zur kalibrierung gar nicht mal schlecht, damit die tollen abende / tage auch als solche hervorstechen und nicht immer wieder auf’s neue reproduziert werden müssen.

spendenmöglichkeiten für beirut

als ob eine global grassierende pandemie, gefälschte wahlen in weißrussland, kaum verhohlen rassistische staatsoberhäupter in nord- und südamerika, moria, kurz: all die vorhandenen krisengebiete nicht genug wären, hat die explosion in beirut einmal mehr die gesellschaftlichen diskrepanzen offenbart, die mit einer korrupten regierung einhergehen.

spendenaufrufe gingen bereits durch die medien, ich möchte zwei hervorheben.

zum einen gibt es einen paypal-pool vom „projekt 009“. läuft bereits sieben tage, bis freitag ist noch zeit und noch einiges bis zum gesetzten ziel von 10.000 euro aufzuholen: klick.

zum anderen hat rabih beaini bereits alle erlöse des bandcamp-freitages letzte woche für sein label morphine records weitergeleitet. das war phase eins. phase zwei ist die veröffentlichung einer zusammenstellung: the sacred rage. die hebt sich für meine ohren wohltuend von manch anderen ab. will heißen: selbst wenn die beteiligten bereits länger auf festplatten oder dat (nutzt das heutzutage überhaupt noch jemensch?) herumliegendes material hingeschickt haben, klingt das nicht nach resteverwertung. meine favoriten sind die üblichen verdächtigen: monolake (synkopiert-vertrackt wie in den letzten jahren, aber dessen werde ich nicht müde), der labelinhaber selbst erstaunlich tanzflächenkompatibel, the bug mit seiner düsteren variante von dancehall (mit ihm ist es für mich nach wie vor leicht: entweder es gefällt mir richtig oder ist überhaupt nicht meins – hier trifft ersteres zu), und neel überrascht mich mit seinem drum&bass-track à la samurai so richtig.

p.s.: ich habe gerade wordpress auf version 5.5 aktualisiert. damit kam auch eine neue version für puro als theme, das vorhandene css-änderungen überschrieben hat. daher seht ihr erstmal andere linkfarben und eine geringere breite. passe ich in den nächsten tagen an.

r.i.p. christo

ich weiß, dass ich damit spät dran bin, aber er gehört definitiv erwähnt. vor gut einem monat erst noch bei der rbb abendschau im ferninterview aus new york und klar habe ich damals auch den verhüllten reichstag gesehen.

einer von denen, die groß und meinetwegen auch größenwahnsinnig gedacht haben, dabei aber nie die hoffnung auf das vereinende momentum für das publikum aus dem blick verloren haben. einen letzten eindruck davon wird mensch nächstes jahr bekommen können, wenn sein projekt mit der verhüllung des triumphbogens in paris verwirklicht wird.

er ist bereits am 31. mai mit 84 jahren verstorben.

r.i.p.

[stream / 16.05.2020] radio 80000: warning takeover

(ein klick auf das bild führt direkt zu radio 80000.)

nach den ganzen traueranzeigen der letzten tage / wochen mal etwas werbung: radio 80000 ist mir relativ zu beginn der covid-19-situation aufgefallen, als skee mask dort zwei stunden an einem samstagabend gespielt hat (das gibt’s bei mixcloud nachzuhören).
morgen darf die warning den tag übernehmen. ich wurde vergangenen montag gefragt, ob ich für jemenschen einspringen kann, der krankheitsbedingt kein set aufnehmen konnte. eine stunde, sollte bis donnerstag abend auf dem tisch liegen.
dienstag habe ich schnell während der arbeit die bandcamp- sowie boomkat-einkäufe und die digitalisierten schallplatten des letzten halben jahres gesichtet. abends hatte daraus eine itunes-playlist mit etwas mehr als 20 titeln zusammen.
mittwoch zum feierabend dann arrangement in ableton live. manche titel flogen wieder raus, fest stand wie so häufig der schluss. kurze probe, ob das alles jeweils so ineinanderpasst, die aufnahme startete zum sonnenuntergang. war (selten genug) beim ersten anlauf im kasten, obwohl ich in der mitte einen track nachschießen musste, da ich sonst unter der stunde geblieben wäre. zum schluss etwas getrickst und den schlusstrack an einer für mich schönen stelle geloopt und noch eine reprise des vorherigen daruntergelegt.

soviel zur entstehung und noch gar nichts zum line-up. dabei ist das auch exquisit ausgesucht. los geht es um 12 uhr für die darauf folgenden acht stunden. lässt sich im hintergrund abspielen, da glücklicherweise auf video verzichtet wird.

12h00 mars leder
13h00 marie montexier
14h00 stype
15h00 jotel california
16h00 piracy
17h00 kaletta
18h00 rvds
19h00 donna crooner

[stream / 08.04.2020] united we talk – tear down borders: #leavenoonebehind / united we stream – live from diskothek melancholie 2

mal etwas weniger kurzfristig und nicht ohne stolz: lesbos / moria findet zwar medial aktuell auch statt, aber ebenso offensichtlich ist der latente nationale selbstbezug bei der vermeintlichen gesundheitskrise, die auch nicht zu unwesentlichen teilen durch die kostenoptimierung des pflegebereichs in den vergangenen jahren hausgemacht ist.
dabei treten geflüchtetencamps als eine der baustellen zurück, obwohl sie seit jahren brachliegen. durch covid-19 treten die konsequenzen daraus mit allen unschönen details einmal mehr zutage. die binsenweisheit also gerne noch einmal: eine geflüchtetenpolitik (oder gar deren ursachenbekämpfung) wurde mindestens genauso lange verschlafen wie die erkenntnis, dass pflegekräften nicht genauso viel zugemutet werden kann wie robotern in der autoproduktion.
geflüchtete sind morgen von 16 bis 19 uhr thema bei united we talk und (damit wäre ich beim stolz) die bewegungsfreiheit kommt auch zu wort. zwar nicht extrem lang (fünf minuten, wie ich erfahren habe), aber ich hoffe, dass die drei stunden dazu beitragen werden, die thematik neben die soziale isolation rücken zu lassen.

danach kann ich direkt mein fanboy-dasein ausleben und objekt neben anderen aus der melancholie 2 auf die finger schauen.